Ich glaube fest daran, dass es zuerst die eigenen Taten sind, die einen Menschen auszeichnen. Aber auch die Herkunft ist wichtig, um die eigene Existenz zu begreifen. Die Familie also, im Guten wie im Schlechten. So habe ich mich denn schon vor ca. 20 Jahren auf die Suche nach meinen Wurzeln begeben. Startpunkt waren alte Fotoalben, die meine Patentante Gertrud Loevenich verwahrt und mir seinerzeit geschenkt hatte. Auf den Rückseiten der Bilder waren häufig Namen notiert. Ergänzt wurden diese Informationen mit jenen Aufzeichnungen, die die Generation meiner Großeltern im Dritten Reich vorweisen musste, wenn sie heiraten wollten.
Diese „Ahnentafeln zum Nachweis der arischen Abstammung“ und der zugehörige Schriftverkehr mahnen einerseits an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte, enthalten in meinem Fall aber auch amtlich beglaubigte Informationen zurück bis zum 28. August 1854, als einer meiner Ur-Ur-Ur-Großväter – Joseph Streng und dessen Geliebte, Anna, Baronesse de Dampiere im Oberösterreichischen Weißenkirchen ihr gemeinsames und offenbar uneheliches Kind Maria Antonia taufen ließen.
Meiner Großmutter Sofie war die Baronesse trotz des Seitensprungs willkommen, so konnte sie schließlich immer wieder darauf hinweisen, dass unsere Familie ja auch irgendwie adelig sei…
Der Spur der Baronesse bin ich übrigens auch noch gefolgt, jedoch verzweigt sich das mittelalterliche Adelsgeschlecht der Dampieres zu sehr, um hier noch etwas Konkretes sagen zu können. Eine genetische Herkunftsanalyse würde womöglich helfen, doch bezweifle ich das Interesse dieses mutmaßlichen Familienzweiges am Datenaustausch. Den berühmtesten Vertreter aus dieser Richtung will ich Euch trotzdem nicht vorenthalten: Es handelt sich um Heinrich Duval Graf von Dampiere, einen kaiserlichen Feldmarschall und ziemlich erfolgreichen Feldherren zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges.
Friedlicher, und für mich weitaus interessanter sind eine ganze Reihe von Simms, die in der direkten väterlichen Linie stehen, und die im 19. Jahrhundert in der Nähe von Gablonz an der Neiße bzw. Falkenau (damals Böhmen, heute Tschechien) als Glasbläser und vor allem Glasschleifer tätig waren. Hier kann man fast schon von einer Dynastie sprechen, auch wenn diese Ahnen es nicht zu besonderem Reichtum brachten. Der berühmteste Vertreter war Anton Simm, der am 3.6.1799 in Gablonz geboren wurde und einer der produktivsten Glasschleifer seiner Zeit in der Isergebirgsregion war. In dem Buch „Gläser der Empire- und Biedermeierzeit“ von Gustav E. Pazaurek ist er bestimmt 100 Mal erwähnt, und ich habe dort auch im Bild zahlreiche Kostproben seiner Kunst gefunden. Falls ich einmal nach Gablonz komme, will ich versuchen, eines dieser Gläser zu erwerben.
Und wie kamen die Simms ins heutige Deutschland? Nun: Mein Ur-Ur-Großvater, der am 14.11.1845 in Falkenau geborene Kaufmann Joseph Simm hat Maria Streng (die uneheliche Tochter der Baronesse) geheiratet, und ist zu ihr nach Eppelheim bei Heidelberg gezogen. Die beiden hatten einen Sohn – meinen Urgroßvater Heinrich Simm, der leider nur 28 Jahre alt wurde. Als Heinrich starb war mein Großvater Karl Simm gerade ´mal 2 Jahre alt. Seine Mutter Elisabetha Auguste (geb. Kölmel) stand da mit Karl und dessen beiden Geschwistern Seppl und Elsa. Bald heiratete sie erneut, wobei ihr zweiter Ehemann – Metzgermeister Hermann Weiß – ebenfalls Witwer war und drei Kinder mit in die Ehe brachte. Aus dieser Ehe kamen nochmals vier Kinder, zusammen also zehn, die aber aufgrund des Berufes des Vaters gut versorgt waren. Im ersten Weltkrieg hat Hermann Weiß offenbar eine Feldküche betrieben; spätere Bilder zeigen ihn als stolzen Reitersmann. Unversehrt kam er zurück in seine Heimatstadt Eppelheim, wo die Metzgerei über 75 Jahre und drei Generationen geführt wurde, teilweise sogar inklusive der Gastwirtschaften „Ochsen“ und „Krone“.
Nun sind wir mit Karl Simm und seiner Frau Sofie (geb. Merz) bei zwei Menschen angekommen, die ich als Enkel noch gekannt habe. Den ersten Weltkrieg hatten beide als Kinder erlebt, den zweiten als Erwachsene. Das wirft Fragen auf. Welche Rolle haben die beiden gespielt? Insbesondere mein früh verstorbener Opa, an den ich aus meiner Kindheit kaum noch Erinnerungen habe, dessen Hinterlassenschaften in Form von Bildern, Orden etc. aber auf einen eher großspurigen Mensch hindeuten? Der Opa hatte zwischen den Kriegen keine höhere Ausbildung bekommen, war aber Architekt geworden und hatte sich mit eher bescheidenen Aufträgen über Wasser gehalten. In der Armee taucht er zunächst als einfacher Soldat bei einem Gebirgsregiment auf, dann aber unvermittelt als höherrangiger Festungsbauer mit der Organisation Todt in Norwegen. Habe eine Suche nach Kriegsverbrechen gemacht, die aber zu meiner Beruhigung ergebnislos blieb. Das passt denn auch zu den Erzählungen meiner Großmutter, wonach das Schlimmste, was die deutschen Besatzer den Norwegern angetan hätten, ein Alkoholverbot gewesen sei.
Zu denken gibt mir aber, dass der Opa als Haupttrupp-Führer am 20.4.1944 (Hitlers Geburtstag) mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet wurde. Und als der Krieg vorbei war, gab er an, der Wehrpass sei „in Verlust geraten“, und ist nun plötzlich wieder ein einfacher Obergefreiter bei den Gebirgsjägern. Ein Gericht hat ihn später wegen Mitläuferschaft zu 300 Reichsmark Buße verurteilt (er war auch Mitglied der NSDAP), und damit war die Sache für ihn erledigt. Der andere Opa – Paul Michelbach – hatte im Krieg großes Glück, denn er war einer der ersten, der bei Rommels Afrikafeldzug in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet, sodass er den Rest der Zeit in den USA mit Feldarbeit verbringen durfte.
Zurück zum „Nazi-Opa“, denn der erscheint nach weiteren Recherchen womöglich in einem ganz anderen Licht. In seinen Unterlagen habe ich Korrespondenz gefunden, wo die „Reichskammer der bildenden Künste“ ihn auffordert, den Ariernachweis für seine Frau Sofie beizubringen, sowie etliche Briefe mit Kirchenämtern, in denen er um eine Bescheinigung bittet.
Offenbar war es nicht einfach, die Behörden zu überzeugen. Und dann habe ich bei einer Gen- und Herkunftsanalyse meiner selbst festgestellt, dass ich ca. ein Achtel „jüdische“ Erbanlagen besitze. Demnach muss eine Person aus der Generation meiner Urgroßeltern jüdisch gewesen sein! Vielleicht – so denke ich heute – war meine Großmutter Sofie eine Halbjüdin, und der Opa war auch deshalb ein strammer Parteigänger, weil er keine eingehenderen Untersuchungen riskieren wollte? Ganz sicher wird sich das nach so vielen Jahren nicht mehr beweisen lassen, doch nehmen ich mir das zum Anlass, mich bei der Be- und Verurteilung von Opa Karl zurückzuhalten. Was der Krieg und verbrecherische Regime mit den Menschen macht, kann man als nicht unmittelbar Beteiligter wohl kaum beurteilen. Das gilt auch für meine Eltern, die in den Jahren 1934 und 1936 geboren wurden. Mit 88 Jahren erfreut sich meine Mutter Helga Simm noch relativ guter Gesundheit, während mein Vater Karl-Heinz Simm bereits früh verstorben ist.
Er war als Architekt sehr erfolgreich, hat z.B. bereits in seinen Studienjahren eine Ausschreibung für die Stadtbibliothek in Heidelberg gewonnen, die dann zusammen mit dem Architekten Grobe verwirklicht wurde. In meiner Jugend habe ich mir ein Taschengeld dazuverdient beim Aufmessen zahlreicher Häuser, ja ganzer Viertel in der Heidelberger Altstadt, die er saniert hat.
Außerdem plante mein Vater jede Menge Privathäuser, Schulzentren, Universitätsgebäude, sowie die dauerrenovierungsbedürftige Orthopädische Klinik in Heidelberg-Schlierbach. Politisch war er im Gemeinderat Neckargemünd für die CDU aktiv (jedoch kein typischer Parteigänger), außerdem im Kirchenrat und höchst engagiert in seinem heiß geliebten Heidelberger Schützenverein 1490 e.V. Ich denke, mein Vater wurde als Mensch geschätzt, er war bei der Verwandtschaft beleibt und hatte viele Freunde. Für vieles Weitere ist hier nicht der rechte Platz, und so möchte ich meine Familiengeschichte hier abschließen mit einem „Schade, Papa, dass Du so früh gegangen bist.“
Was ich selbst bisher so angestellt habe, findet ihr in einem eigenen Beitrag: Mein Ding.