Guten Morgen. Sie haften mit 9500 Euro

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfahre ich, dass die EU-Banken 3700 Milliarden Euro an „Staatshilfen“ erhalten. Staatshilfe heißt übersetzt: Wir Bürger haften und zahlen für die Schäden, die durch die Misswirtschaft der Banken entstanden sind. Ich versuche, meinen Anteil zu errechnen, scheitere aber zunächst daran, dass mein Taschenrechner nicht genug Stellen auf dem Display anzeigt. Also kürze ich ein paar Nullen weg und reche gleich mit Millionen. 3700 Milliarden, das sind 3700000 Millionen. In der Europäischen Union leben etwa 390 Millionen Menschen. Ergo beträgt mein Anteil 3700000 / 390 = 9487 Euro und 18 Cent. Ihrer übrigens auch. Einen guten Tag noch und seien Sie schön sparsam.

Märchenstunde nach der Europa-Wahl

Ok, ok – manchmal neige ich zu Übertreibungen. Diplomatie ist nicht meine Stärke. Und manchmal rege ich mich unnötig auf. „Schone Deine Nerven“, sagte ich mir deshalb im Vorfeld der Europawahl, „ändern kannst Du ja doch nichts“. Also ging ich nicht hin und war damit in bester Gesellschaft. 58 Prozent der stimmberechtigten Deutschen haben auf diese Wahl geschissen, in den EU-Ländern insgesamt waren es 57 Prozent und in Berlin sogar 67 Prozent. 30 Jahre nach der ersten Europa-Direktwahl ist die Ablehnung der EU so groß wie noch nie. Deutlicher kann man einen Denkzettel kaum formulieren, dachte ich mir und gab mich für einen Moment der Illusion hin, dass diese Form der Kritik bei den Mächtigen wie auch bei den Meinungsmachern ankäme.

Was aber muss ich in der Zeitung lesen? Es sei im Wahlkampf ja gar nicht um Europa gegangen, bemüht sich „Bild“ um eine Erklärung. Europa sei für die Nachkriegsgeneration selbstverständlich, mit Reisen ohne Pass, stabiler Währung und Frieden. Außerdem sei der Wahlkampf öde und ohne prominente Gesichter verlaufen, fügt Bild entschuldigend hinzu. „Wie bitte?“, frage ich – und spüre, wie mein Blutdruck steigt. Doch es kommt noch besser: Die Wahlmüdigkeit sei ein Zeichen grundsätzlicher Zufriedenheit mit Europa, fabuliert „Der Standard“ aus Wien und mein: „Es besteht kein wesentlicher Änderungsbedarf.“

STOPP! JETZT REICHT ES MIR!

Es ist schlimm genug, dass ich mit meinen Steuern einen Club finanzieren muss, dem ich nicht angehören will. Die EU ist noch immer ein gigantischer Geldverschiebebahnhof, der 40 Prozent seines Etats für Subventionen der Landwirtschaft verpulvert, statt eine soziale Marktwirtschaft zu fördern. Ein Schweinetrog, an dem die Schnellsten, die Cleversten, die Lautesten und die Unverschämtesten sich satt fressen. Ein Verein, dessen Mitglieder sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Tagungsort einigen konnten, sodass EU-Parlamentarier mitsamt ihren Heerscharen von Übersetzern wohl noch bis in alle Ewigkeit in einer absurden Prozession zwischen Brüssel und Straßburg auf unsere Kosten hin und her pendeln werden.

Das Schlimmste aber ist: Die EU ist keine echte Demokratie und insbesondere die deutschen Wähler haben mit ihren Stimmen dort fast keinen Einfluss (laut einer Emnid-Umfrage glauben dies 79 Prozent aller Befragten). Warum gab es bei uns keine Volksabstimmung über den EU-Beitritt? Wurden Sie nach Ihrer Meinung gefragt, bevor man die Mark abgeschafft und den Euro eingeführt hat? Wen hätte ich wählen können, um die Osterweiterung der EU zu verhindern? Warum durfte ich nicht mit entscheiden, ob Europa eine Verfassung braucht?

Wer angesichts solcher Missstände keinen „Änderungsbedarf“ erkennen kann, muss sich nicht nur fragen lassen, ob er das Wort „Demokratie“ wirklich verstanden hat. Und wer die offensichtliche Ablehnung der politischen Institution EU durch deren Bürger als „Zufriedenheit“ umdeutet, sollte statt Kommentaren lieber gleich Märchen schreiben. Ich jedenfalls habe die Europawahl nicht aus Faulheit versäumt. Vorsätzlich, bewusst, und um ein Zeichen zu setzen, bin ich nicht zu dieser Wahl gegangen. Im Wahl-Boykott sehe ich die einzige verbliebene Möglichkeit, um gegen eine Politik zu protestieren, die in erschreckender Weise den Willen der Mehrheit ignoriert.

Aber eigentlich wollte ich mich ja gar nicht aufregen. Und bevor Sie mich nun als Nationalisten beschimpfen oder gar in die Braune Ecke stellen, möchte ich klar stellen, dass ich an Freiheit, (Chancen-)Gleichheit und Gerechtigkeit glaube. In diesem Sinne hier ein paar Lesetipps und Links zum Thema Demokratie:

Buchbesprechung: Istanbul von Orhan Pamuk

Als Einstimmung und Vorbereitung zu einem Besuch in Istanbul habe ich mir dieses Buch gekauft, angelockt auch von den Lobgesängen auf dem Buchdeckel: „Ein wunderbares Istanbuler Lesebuch“, wird dort aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert und in der Frankfurter Rundschau urteilte der Rezensent: „Ein fesselnder Liebesroman mit Istanbul in der Rolle der Geliebten.“

Um es vorweg zu nehmen: Angesichts der beeindruckenden Biographie des Autors – Orhan Pamuk ist nicht nur der einzige türkische Nobelpreisträger für Literatur sondern er wurde auch vor Gericht gezerrt und mit Todesdrohungen überhäuft, weil er sich kritisch mit der Vergangenheit seines Landes auseinander gesetzt hat – bin ich von dem Buch ziemlich enttäuscht.

Mir erscheint das Werk als die seltsame Verquickung einer Biographie aus Pamuks Kindheits- und Jugendtagen einerseits sowie dem melancholischen Blick auf Istanbul andererseits. Das Wort, das mir im Gedächtnis bleibt ist „Hüzun“ für eine spezifische Gefühlsregung, die sowohl Melancholie und Niedergeschlagenheit umfasst, in der aber andererseits auch eine Zuneigung für diese Stadt mitschwingt, die sich sowohl aus dem Verfall und der vermeintlichen Unterlegenheit gegenüber dem Westen speist, wie auch aus dem Rückblick auf eine unwiederbringliche Glanzzeit.

Eingeflochten sind Beschreibungen von Pamuks Gefühls- und Familienleben sowie die Versuche anderer, meist westlicher Künstler, die Stadt zu beschreiben.

Die Hoffnung, aus diesem Buch einen Nutzen auf den bevorstehenden Urlaub zu ziehen wurde enttäuscht und obwohl der Schmöker mehr als 400 Seiten umfasst, hat er bei mir nur eine sehr diffuse Ahnung hinterlassen, was es bedeutet, in dieser Stadt als (reicher, der westlichen Lebensart zugeneigter) Türke zu leben.

„Istanbul“ enttäuscht mich sowohl als Biograpie, wie auch als Stadtporträt und ich kann dem Buch allenfalls Mittelmäßigkeit bescheinigen. Wer sich lieber ein eigenes Urteil bildet, kann es z.B. bei Amazon bestellen und gerne auch im Kommentar seine eigene Rezension hinterlassen.

Liebe Bauern, böser Aldi?

Danke Aldi, dass ihr den Milchpreis heute um sieben Cent gesenkt habt. Der fallende Preis ist die logische Folge eines übergroßen Angebotes und einer vergleichsweise geringen Nachfrage. Jedes Schulkind könnte an diesem einfachen Beispiel lernen, wie eine freie Marktwirtschaft mit einem echten Wettbewerb ohne staatliche Einmischung uns Verbrauchern nützt. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
„Die Milchbauern verurteilten die Preissenkung scharf und kündigten Proteste an“, lese ich in der Zeitung und – nur wenige Seiten weiter: „Deutsche Bauern erhalten 5,4 Milliarden Euro aus Brüssel.“ Gemeint sind die Agrarsubventionen der Europäischen Union, die noch immer den weitaus größten Teil des Haushalts ausmachen, und die zu einem erheblichen Teil von deutschen Steuerzahlern finanziert werden.
Wo bleibt da die Gerechtigkeit, wenn eine gut organisierte Minderheit sich nun schon seit Jahrzehnten derart von der Gemeinschaft bezuschussen lässt, während andere leer ausgehen? Warum gibt es kein Geld für die Tourismusbranche, frage ich mich, denn dann könnte ich sicher billiger in den Urlaub fliegen? Oder wie wär´s mit einer Steuerbefreiung fürs hiesige Gastgewerbe, die womöglich meine Kneipenrechnung um ein Drittel senken würde?
Nein, liebe Landwirte, ihr habt ebenso wenig ein Anrecht auf unser Steuergeld wie Kohlekumpel, Gebrauchtwarenhändler, Glühbirnenhersteller und – der Gipfel aller Unverschämtheiten – die „notleidenden Banken“. Und wer Angesichts solch himmelschreiender Ungerechtigkeit von mir Solidarität einfordert, dem zeige ich den Vogel!

Bilanzfälschung durch Gründung von Bad Banks

Ein Leserbrief an die Badische Zeitung bringt mein Unverständnis über die Pläne zur Gründung von Bad Banks auf den Punkt: Laut Handelsgesetzbuch sind Kaufleute verpflichtet, die Lage des Vermögens durch ordnungsgemäße Buchführung ersichtlich zu machen, schreibt Werner Schäffner aus Staufen. Er habe im Unterricht nichts davon gehört, dass man „giftigen Finanzschrott“ einfach ohne Gegenbuchung aus der Bilanz herausnehmen und an eine „Bad Bank“ übertragen könne. „Damals hatte man das noch Bilanzfälschung genannt“, schreibt Schäffner und nennt als einzigen ehrlichen Ausweg die Insolvenz.

Buchbesprechung: Die Welt ist flach von Thomas Friedman

Wenn ein dreifacher Pulitzerpreis-Träger sich anschickt, seinen Lesern die Globalisierung zu erklären, dann darf man die Meßlatte ruhig etwas höher legen. Die Rede ist von dem Buch: „Die Welt ist flach“ (gelesen habe ich die englische Ausgabe, „Version 3.0“). Hier präsentiert der New York Times Auslands-Kolummnist Thomas L. Friedman in gewohnt flüssiger Schreibe seine These, dass die Welt „flach“ geworden sei. Aus vielen verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Wirtschaftssystemen, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden und abgrenzen, wird ein globales Spielfeld.

Dass dieses Spielfeld „flach“ ist, dient als Metapher für den fast gleichberechtigten Zugang zu einigen der wichtigsten Ressourcen und Produktionsmittel unserer Zeit. Standardisierte, erschwingliche Software und ein praktisch kostenloses System zum weltweiten Austausch von Informationen versetzen immer mehr Menschen in die Lage, ihre Dienste anzubieten, zu wachsen und schließlich den ehemals dominierenden und abgeschotteten Unternehmen Konkurrenz zu machen. Zehn Kräfte listet Friedman, die die Welt geplättet haben sollen, darunter die Terroranschläge des 11. September und den Fall der Berliner Mauer, der Aufbau des Internet als weltumspannende Datenautobahn und effizienz-steigernde Trends wie Outsourcing, Offshoring oder Supply-Chaining. Sie alle werden mit anscheinend zwingender Logik und zahlreichen faszinierenden Anekdoten belegt. Friedman ist viel gereist und sichtlich beeindruckt von all den Arbeitsessen mit den Wirtschaftsführern dieser Welt zurück gekommen, um uns zu erklären, warum zum Beispiel Walmart und UPS über lange Zeit so erfolgreich waren. Dieses erste Drittel ist für mich der stärkste Teil des Buches und liefert starke Argumente für die Globalisierung, die auch Kritiker zur Kenntnis nehmen sollten.

Enttäuschend allerdings und eines Pulitzerpreis-Trägers unwürdig scheint es mir, sich von den Profiteueren der Globalisierung hofieren zu lassen, und deren dunkle Seiten mit erschreckender Naivität einfach auszublenden. Hätte Friedman nicht auch einen Abstecher in die Slums von Bombay machen können? Warum sprach er nicht mit jenen zwangsenteigneten und vertriebenen chinesischen Bauern, auf deren Land nun milliardenweise billige Socken für den Export gefertigt werden? Und wird Friedman eigentlich eine Version 4.0 dieses Buches schreiben, wo er uns erklärt, dass die „Bankenkrise“ eigentlich nur ein kleiner Betriebsunfall war?

Bezeichnend scheint mir, dass die Originalversion des Buches in den USA von den Hobbykritikern bei Amazon im Durchschnitt vier von fünf möglichen Sternen erhielt. Dagegen vergaben die Rezensenten der deutschen Version auf amazon.de durchschnittlich nur drei Sterne. Kritisches Denken, so scheint mir, ist zumindest auf dieser Seite des Atlantiks noch nicht völlig aus der Mode gekommen. Und Friedman? Der haut weiter in die Tasten. „Hot, Flat and Crowded“ heißt sein jüngster Erguss in dem der „Guru der Globalisierung“ doch tatsächlich die These vertritt, die – us-amerikanische – Marktwirtschaft sei das effektivste und fruchtbarste System, um uns in eine bessere, grünere Zukunft zu katapultieren. Der deutsche Titel „Was zu tun ist“ setzt noch einen ´drauf.

Wieder ist Friedman mehrmals um den Globus geflogen, um sich von seinen Gesprächpartnern beeindrucken zu lassen. Er entdeckt, dass die Erde sich erwärmt und die Bevölkerung wächst und er merkt, dass dies ein Problem werden könnte für das ausgerechnet die USA die Lösung berät halten. Eine Kostprobe: „Es gibt nur eine Sache, die größer ist als Mutter Natur – und das ist Vater Profit“. Wer so etwas heute immer noch behauptet, glaubt wahrscheinlich auch, die Welt sei eine Scheibe.

Abwrackprämie: 39 für Einen

Jetzt ist es also beschlossen: Nicht nur 1,5 Milliarden Euro sondern mehr als die dreifache Summe müssen wir Steuerzahler in den nächsten Jahren, vielleicht Jahrzehnten bezahlen, damit andere sich neue Autos kaufen dürfen. 5 000 000 000, weil Lobbyisten wieder einmal erfolgreich waren und weil die regierenden Parteien beschlossen haben, lieber Wahlkampfgeschenke zu verteilen, als mit unserem Geld sorgfältig zu wirtschaften. Zugute kommt dies immer noch nur einer kleinen Minderheit, auch wenn die Zahl von zwei Millionen Autos zunächst beeindruckend erscheint. Eine einfache Überschlagsrechnung zeigt nämlich, dass damit nur etwa jeder vierzigste Einwohner in den Genuss dieser Subvention kommt. Anders gesagt: 39 Menschen zahlen, einer macht Gewinn. Geht man von etwa 50 Millionen Steuerzahlern aus, so berappen diese pro Kopf 100 Euro für die Abwrackprämie – Zinsen nicht eingerechnet.

Genau so ungerecht geht es in der Wirtschaft zu: Heute profitieren Gebrauchtwagenhändler und die vorwiegend ausländischen Hersteller kleiner Wagen – alle anderen Branchen gehen leer aus. Selbst die Subventionsempfänger jammern schon ´mal vorsorglich, weil natürlich die Nachfrage ab dem 1. Januar 2010 zusammenbrechen wird, denn schließlich ist der Markt dann auf Jahre gesättigt. Wie kurzsichtig darf Politik eigentlich sein? Ist es nicht offensichtlich, dass die allermeisten derjenigen, die sich von der Abwrackprämie zum Autokauf verlocken lassen, dann eben kein Geld mehr haben, um beispielsweise ihr Dach zu renovieren, ihre Garderobe zu erneuern, in die Wirtschaft zu gehen oder einen neuen Computer zu kaufen? Subventionen – und um nichts anderes handelt es sich hier – sind das Gegenteil von Solidarität.

„Dies ist nun einmal der Preis, den wir zahlen müssen, damit es uns bald allen wieder besser geht“, höre ich Sie sagen. Mir wäre es wohler, ich hätte dieses Geld behalten dürfen. Aber wenn diese Regierung es sich schon anmaßt, die Steuereinnahmen und Steuererhöhungen der Zukunft in „Konjunkturprogramme“ zu stecken, dann bitte so, dass alle davon profitieren. Ein Vorschlag, der bereits auf dem Tisch lag und zugunsten erfolgreicher Lobbyisten beiseite gefegt wurde lautet: Zumindest die Hälfte aller Gelder zu Rettung der Konjunktur sollte in Form von Konsumgutscheinen verteilt werden, über deren Verwendung die Empfänger frei entscheiden können.

Ich würde damit zuerst ins Eiscafé gehen und mit dem Rest in den Biergarten 😉

Und wie sieht Ihr Traum von einem gerechten Konjunkturpaket aus?

P.S.: Am besten bringt es Winand von Petersdorf heute in einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Online auf den Punkt: „Einige Menschen in diesem Land zahlen fleißig Steuern, haben kein Auto zum Abwracken, sind nicht systemrelevant und darüber hinaus nicht mit der Macht und Chuzpe gesegnet, die Politiker zu erpressen. Sie beziehen keine Sozialhilfe. Sie arbeiten und wappnen sich gegen schlechte Zeiten durch Sparsamkeit. Sie gehören in diesem Land zu den ärmsten Hunden.“

Buchbesprechung: Bonk von Mary Roach

Oswald Kolle war gestern. Wer sich heutzutage mit den Details des menschlichen Sexualtriebs auseinandersetzen und dabei auch noch jede Menge Spaß haben will, dem sei mit Mary Roach die womöglich lustigste Wissenschaftsautorin unserer Tage ans Herz gelegt.

In „Bonk: Alles über Sex – von der Wissenschaft erforscht“ beschreibt Mary Roach mit leichter Hand und umwerfendem Humor die Arbeit, das Leben und die Erkenntnisse mehr und weniger berühmter Sexforscher und Sexforscherinnen. Ungeniert erkundet Roach, was uns alle bewegt. Dies gelingt ihr erstaunlicherweise, ohne den Deckmantel der Literatur bemühen zu müssen und ohne jemals ins Pornografische abzugleiten.

Sie sind neugierig? Hier sind die die ersten Sätze: „Ein Mann sitzt in einem Raum und spielt mit seinen Kniescheiben. Es ist 1983 auf dem Gelände der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Der Mann ist eine Versuchsperson und man hat ihn angewiesen, sich vier Minuten lang zu stimulieren, anzuhalten und dann eine weitere Minute an sich zu arbeiten. Dann darf er seine Hosen wieder anziehen, bekommt eine Entschädigung und wird nach Hause entlassen mit einer unterhaltsamen Geschichte zum Abendessen.“

Diese Studie habe sie zufällig entdeckt, während sie sich in der Universitätsbibliothek vor der eigentlichen Arbeit drückte, so Roach. Da sei ihr klar geworden, dass Sex ebenso im Labor untersucht wird, wie Schlaf, Verdauung und andere Körperfunktionen des Menschen. Aber wie untersucht man Sex? Was sind das für Leute und wer bezahlt für so etwas? Welche Ergebnisse haben sie und werden die Ehepartner der ForscherInnen nicht misstrauisch?

Mit wenigen Ausnahmen sei das Studium der sexuellen Körperfunktionen erst in den 1970er Jahren ins Rollen gekommen, erinnert uns Roach. Noch vor einem halben Jahrhundert beschrieben die wohl berühmtesten Sexforscher, William Masters und Virginia Johnson ihre Arbeitsumstände folgendermassen: „Die Wissenschaft und die Wissenschaftler werden von Angst regiert – Angst vor der öffentlichen Meinung, Angst vor religiöser Intoleranz, vor politischem Druck und vor allem Angst vor Heuchelei und Vorurteilen.“ Dann sagten sie, in Roachs´ Worten: „Uns doch egal“ und sie bauten eine Penis-Kamera.

Roach nimmt uns mit auf die Suche nach dieser Original-Kamera und erklärt, wie der Geschlechtsakt damit aus einer bislang unbekannten Perspektive erforscht wurde. Wir erfahren, wie gut es den Schweinen Dänemarks geht, die von Männern wie Morten, Martin und Thomas vor der künstlichen Befruchtung mit größtmöglichem Einsatz stimuliert werden, weil nur glückliche Säue viele Ferkel machen. Gibt es eine unterhaltsamere Art, den Leser an all den Theorien teilhaben zu lassen, wozu Orgasmen nötig sind? Gerne folgen wir auch den vielen geschichtlichen Exkursen und spekulieren mit Roach, dass Frau Hippokrates vermutlich besseren Sex hatte als Frau Aristoteles.

Keine Rechtschreibprüfung kennt den Vaginocavernosus-Reflex, einer von Dutzenden, der in wunderbarer Weise das Zusammenspiel menschlicher Geschlechtsorgane regelt. Roach dagegen besucht den illustren Entdecker des Vaginocavernosus-Reflex Ahmed Shafik, in Kairo und fühlt dem selbst ernannten Nobelpreiskandidaten und Urologen Fidel Castros auf den Zahn. Shafik habe ihr Herz gewonnen mit einem Artikel in der Fachzeitschrift European Urology zur Auswirkung von Polyester-Hosen auf die Fruchtbarkeit. „Ahmed Shafik hat Laborratten Polyesterhöschen angezogen“, erklärt Roach und gibt eine Kostprobe ihres kritischen Verstandes, wenn sie anmerkt, dass diese Ratten vielleicht auch deshalb weniger Sex hatten, weil die Polyester-Höschen den Rattendamen nicht gefielen (Shafik dagegen glaubt, das Polyester würde zum Aufbau bedenklicher elektrostatischer Felder um die Genitalien beitragen).

So beunruhigend es auch für die männlichen Leser sein mag, von einer Epidemie zu erfahren, bei der in Thailand binnen kurzer Zeit mehr als 100 untreue Ehemänner von ihren Frauen kastriert wurden, lernen wie andererseits auch Helden kennen wie den Taiwanesen Dr. Geng-Long Hsu, einen der führenden Experten für die Reparatur und den Aufbau verletzter, missgestalteter und zu klein geratener Penise. Geradezu schmerzhaft detailliert berichtet Roach von einer dieser Prozeduren, der sie beiwohnen durfte. Und sie erkundet andere kreative Wege, der Impotenz beizukommen – bis hin zum Verzehr und der Transplantation tierischer Hoden.

Auf der anderen Seite widmet Roach fast ein ganzes Kapitel der unbefriedigten Prinzessin Marie von Griechenland. Deren Theorie, die zu große Distanz zwischen ihrer Klitoris und Vagina liefere eine wissenschaftliche Erklärung für den freudlosen Sex sowohl mit ihrem Ehemann George, als auch mit mindestens fünf anderen Männern erwies sich jedoch als fragwürdig: Zwei Versuche, die Entfernung mit Operationen zu verkürzen, brachten keinerlei Erfolg. Selbst Haustiere hätten besseren Sex als sie und ihre Geschlechtsgenossen, klagte die Prinzessin. Dass Orgasmen sich auch herbeidenken lassen, wusste die Prinzessin offensichtlich nicht. Bei Mary Roach hätte sie es aber erfahren.

Roach hat vor Bonk bereits ein erfolgreiches Sachbuch geschrieben, das inzwischen auch ins deutsche übersetzt wurde: In „Die fabelhafte Welt der Leichen“ geht es darum, was man mit menschlichen Kadavern so alles anstellen kann. Sie sei nicht von Sex und Tod besessen, glaubt Roach, sich gegenüber ihren Lesern rechtfertigen zu müssen. Aber dass sie bei ihren Recherchen häufig dem gleichen Misstrauen, den Ängsten, Verdächtigungen und Vorurteilen begegnete wie die Männer und Frauen, die den Sex erforschen, ist auch ein Teil der Geschichte, die dieses Buch erzählt und die „Bonk“ umso authentischer macht.

Mary Roachs Buch ist keine Gebrauchsanleitung, kein Nachschlagewerk, kein Porno und auch keine Literatur. Aber es ist ein brilliant geschriebenes, gründlich recherchiertes, sehr lustiges und zugleich lehrreiches Sachbuch mit dem Zeug zum Bestseller. Wie wichtig Größe ist, bleibt unbeantwortet. Aber falls es einen G-Punkt gibt, hat Mary Roach ihn mit „Bonk“ zu 100 Prozent getroffen.

Besuch im Newseum

Newseum? Das laut Eigendarstellung „interaktivste Museum der Welt“ verdankt seinen Namen nicht etwa einem Druckfehler, sondern einem Wortspiel. Hier dreht sich alles um „News“, um Nachrichten also und darum, wie sie gemacht werden und von wem. Etwas holpriger klingt das im „Mission Statement“. Demnach ist es das erklärte Ziel des Newseums, einen Treffpunkt zu bieten, wo Medien und Öffentlichkeit aufeinander treffen und lernen, einander besser zu verstehen.

Eröffnet im Frühjahr 2008, finanziert und unterhalten aus den Spendengeldern der Stiftung „Freedom Forum“ zählt das Newseum für mich zu den größten Sehenswürdigkeiten in der an Attraktionen gewiss nicht armen US-Hauptstadt Washington.

O.k. – das hat vielleicht auch ein ganz klein wenig damit zu tun, dass ich mich als Journalist gebauchpinselt fühle, weil endlich mal jemand zeigt, wie toll und wichtig die Arbeit ist, die unsereins so leistet. Und außerdem – jawohl, ich gebe es zu – blieben mir die 20 Dollar Eintritt erspart, da ich zu den Gästen gehörte, die hier zum Empfang der Präsidentin auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience eingeladen waren.

Gelegen in Blickweite des Capitols zeigt das Newseum seinen Besuchern schon auf der Straße, worum es hier geht: In Marmor gehauen ziert die Vorderseite des Gebäudes das „First Amendment“, der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Er wurde 1791 verabschiedet und schützt Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Petitonsrecht vor Eingriffen durch den Staat. Wörtlich heißt es:„Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.“

Schon auf der Straße fallen die aktuellen Titelseiten Dutzender amerikanischer und internationaler Zeitungen ins Auge. Wer eine bestimmte Zeitung sucht, hat gute Chancen, diese auf einem der zahlreichen Monitore im Inneren zu finden – sortiert nach Alphabet oder Ländern.  Auf Laufbändern und Fernsehmonitoren im ganzen Gebäude prasseln die Nachrichten auf den Besucher ein – alleine 130 Fernsehsender hat das Newseum abonniert, deren Inhalte von einem für die Besucher einsehbaren Kontrollraum aus überwacht und je nach Bedarf in den verschiedenen Abteilungen zu- oder abgeschaltet werden können.

Interessante und interaktive Ausstellungen finden sich sowohl im Museum selbst als auch auf dessen Webseite, und wer sich traut, kann sogar selbst als Reporter aktiv werden und seine Ansage dem Newseum und seinen Besuchern als Video zum Download zur Verfügung stellen.

Wie sehr unsere Sicht der Welt von Nachrichten geprägt wird, daran erinnert bereits im Eingangsbereich ein Stück der Berliner Mauer – komplett mit Wachturm und der dazugehörigen Dokumentation. Ein Stockwerk darüber steht einsam im Raum ein von der Hitze des Feuers grotesk verbogener Stahlträger aus dem Inneren des World Trade Centers. Im Hintergrund die Titelseiten der Zeitungen vom Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Die Macht der Bilder veranschaulicht die Sammlung von Fotografien, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurden. Kriege, Mord und Gewalt, Flüchtlingslager, Hunger- und andere Katastrophen sind die häufigsten Motive, versehen mit Erklärungen der Fotografen, warum sie es trotzdem geschafft haben, in diesen Augenblicken den Auslöser zu drücken. Daneben aber auch zahlreiche Aufnahmen, die Hoffnung machen, sei es die Geburt eines Babies oder der Blick des freundlichen Polizisten und die vertrauensseelige Erwiderung durch den kleinen Jungen, der am Rande einer Demonstration verloren gegangen ist.

Ein „Journalist Memorial“ erinnert an die Menschen, die sterben mussten, weil sie aus Krisengebieten berichten wollten, Umweltskandale aufdeckten oder Verbrecher entlarvten. Im Raum steht der von Kugeln durchsiebte Pickup-Truck eines Kriegsreporters aus Bagdad. An den Wänden die Gesichter und Namen derjenigen, die ihr Leben ließen für ihre Berichte. Journalisten, die mit ihrer Arbeit nicht nur die Auflage und die Quoten ihrer Auftraggeber erhöhten, sondern die mitunter auch Leben gerettet haben, weil sie die öffentliche Meinung mobilisiert und letztlich auch die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen gezwungen haben.

Die freie Presse ist einer der Eckpfeiler der Demokratie, lautet die vielleicht wichtigste Botschaft des Newseums. Aus Nachrichten wird Geschichte und Journalisten sind es, die heute die ersten Entwürfe unserer Geschichte verfassen. Und wenn diese Journalisten richtig gut sind, enthüllen sie dabei die Wahrheit.

GEO-Artikel: Die Psychologie der Entscheidung

Clara oder Claudia? Fisch oder Fleisch? sparen oder spekulieren?  Hinterher ist man meist schlauer. aber geht es nicht auch anders herum? Das sind so ungefähr die Fragen, für die sich Psychologen und Hirnforscher in jüngster Zeit besonders interessieren. Dieser Trend ist auch der Zeitschrift Geo nicht entgangen und so hat sich deren Autor Harald Willenbrock in der Ausgabe vom August 2008 an dem schwierigen Thema versucht. Heraus gekommen ist dabei die überaus lesenswerte Titelgeschichte „Die Psychologie der Entscheidung“, Untertitel: „Das Geheimnis der guten Wahl“.

Geschickt vermeidet der Autor die mitunter allzu tiefen Niederungen der Wissenschaft, ermüdet uns nicht damit, welchen unaussprechlichen Hirnstrukturen welche Rolle bei der Entscheidungsfindungen zugedacht wird oder wie man diese Regionen untersucht. Auch umschifft Willenbrock recht gekonnt die Frage nach dem freien Willen („eine praktische Vorstellung“) und legt seinen Schwerpunkt statt dessen auf den Nutzwert. Seine Antwort darauf, wie wir die besten Entscheidungen treffen, ist inspiriert vom Zusammentreffen mit Forschern wie Dietrich Dörner, der am Institut für Theoretische Psychologie der Universität Bamberg seine Probanden in Computersimulationen über das Schicksal ganzer Völker entscheiden läßt, er trifft den US-Experten Gary Klein und dessen Berliner Kollegen Gerd Gigerenzer, die  uns einiges über die Macht des Unbewussten erzählen. Er lässt den Bremer Hirnforscher Gerhard Roth ebenso zu Wort kommen wie Daniel Gilbert von der Harvard Universität, Autor des „zugleich lustigen und deprimierenden Buches „Ins Glück stolpern“ oder Barry Schwartz, ein weiterer renommierter US-Psychologie der uns erklärt, warum eine allzu große Auswahl uns unglücklich machen kann. Und natürlich fehlen auch die Vertreter des Neuromarketing nicht, die von sich behaupten, das Kaufverhalten der Kunden durch einfache Psychotricks steuern zu können.

Statt hier nun die geamte 15-seitige Titelgeschichte wiederzugeben, will ich mich ganz im Sinne des Autoren darauf beschränken, jene vier Regeln aufzulisten, die uns helfen sollen, bessere Entscheidungen zu treffen:

  1. Folge Deiner inneren Stimme und zwar umso schneller, je lauter sie spricht.
  2. Überall dort, wo es an vergleichbaren Erfahrungen fehlt, schalten Sie das Bewußtsein ein.
  3. Begrenzen Sie die Zeit zum Abwegen von Für und Wider, dann nochmals eine Nacht darüber schlafen und – entscheiden!
  4. Erwerben Sie „operative Intelligenz“, also das Wissen, in welcher Situation welche Art der Entscheidungsfindung die richtige ist. Dafür ist es unvermeidlich, immer wieder Entscheidungen zu treffen und aus seinen Fehlern zu lernen.