Buchbesprechung: Bonk von Mary Roach

Oswald Kolle war gestern. Wer sich heutzutage mit den Details des menschlichen Sexualtriebs auseinandersetzen und dabei auch noch jede Menge Spaß haben will, dem sei mit Mary Roach die womöglich lustigste Wissenschaftsautorin unserer Tage ans Herz gelegt.

In „Bonk: Alles über Sex – von der Wissenschaft erforscht“ beschreibt Mary Roach mit leichter Hand und umwerfendem Humor die Arbeit, das Leben und die Erkenntnisse mehr und weniger berühmter Sexforscher und Sexforscherinnen. Ungeniert erkundet Roach, was uns alle bewegt. Dies gelingt ihr erstaunlicherweise, ohne den Deckmantel der Literatur bemühen zu müssen und ohne jemals ins Pornografische abzugleiten.

Sie sind neugierig? Hier sind die die ersten Sätze: „Ein Mann sitzt in einem Raum und spielt mit seinen Kniescheiben. Es ist 1983 auf dem Gelände der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Der Mann ist eine Versuchsperson und man hat ihn angewiesen, sich vier Minuten lang zu stimulieren, anzuhalten und dann eine weitere Minute an sich zu arbeiten. Dann darf er seine Hosen wieder anziehen, bekommt eine Entschädigung und wird nach Hause entlassen mit einer unterhaltsamen Geschichte zum Abendessen.“

Diese Studie habe sie zufällig entdeckt, während sie sich in der Universitätsbibliothek vor der eigentlichen Arbeit drückte, so Roach. Da sei ihr klar geworden, dass Sex ebenso im Labor untersucht wird, wie Schlaf, Verdauung und andere Körperfunktionen des Menschen. Aber wie untersucht man Sex? Was sind das für Leute und wer bezahlt für so etwas? Welche Ergebnisse haben sie und werden die Ehepartner der ForscherInnen nicht misstrauisch?

Mit wenigen Ausnahmen sei das Studium der sexuellen Körperfunktionen erst in den 1970er Jahren ins Rollen gekommen, erinnert uns Roach. Noch vor einem halben Jahrhundert beschrieben die wohl berühmtesten Sexforscher, William Masters und Virginia Johnson ihre Arbeitsumstände folgendermassen: „Die Wissenschaft und die Wissenschaftler werden von Angst regiert – Angst vor der öffentlichen Meinung, Angst vor religiöser Intoleranz, vor politischem Druck und vor allem Angst vor Heuchelei und Vorurteilen.“ Dann sagten sie, in Roachs´ Worten: „Uns doch egal“ und sie bauten eine Penis-Kamera.

Roach nimmt uns mit auf die Suche nach dieser Original-Kamera und erklärt, wie der Geschlechtsakt damit aus einer bislang unbekannten Perspektive erforscht wurde. Wir erfahren, wie gut es den Schweinen Dänemarks geht, die von Männern wie Morten, Martin und Thomas vor der künstlichen Befruchtung mit größtmöglichem Einsatz stimuliert werden, weil nur glückliche Säue viele Ferkel machen. Gibt es eine unterhaltsamere Art, den Leser an all den Theorien teilhaben zu lassen, wozu Orgasmen nötig sind? Gerne folgen wir auch den vielen geschichtlichen Exkursen und spekulieren mit Roach, dass Frau Hippokrates vermutlich besseren Sex hatte als Frau Aristoteles.

Keine Rechtschreibprüfung kennt den Vaginocavernosus-Reflex, einer von Dutzenden, der in wunderbarer Weise das Zusammenspiel menschlicher Geschlechtsorgane regelt. Roach dagegen besucht den illustren Entdecker des Vaginocavernosus-Reflex Ahmed Shafik, in Kairo und fühlt dem selbst ernannten Nobelpreiskandidaten und Urologen Fidel Castros auf den Zahn. Shafik habe ihr Herz gewonnen mit einem Artikel in der Fachzeitschrift European Urology zur Auswirkung von Polyester-Hosen auf die Fruchtbarkeit. „Ahmed Shafik hat Laborratten Polyesterhöschen angezogen“, erklärt Roach und gibt eine Kostprobe ihres kritischen Verstandes, wenn sie anmerkt, dass diese Ratten vielleicht auch deshalb weniger Sex hatten, weil die Polyester-Höschen den Rattendamen nicht gefielen (Shafik dagegen glaubt, das Polyester würde zum Aufbau bedenklicher elektrostatischer Felder um die Genitalien beitragen).

So beunruhigend es auch für die männlichen Leser sein mag, von einer Epidemie zu erfahren, bei der in Thailand binnen kurzer Zeit mehr als 100 untreue Ehemänner von ihren Frauen kastriert wurden, lernen wie andererseits auch Helden kennen wie den Taiwanesen Dr. Geng-Long Hsu, einen der führenden Experten für die Reparatur und den Aufbau verletzter, missgestalteter und zu klein geratener Penise. Geradezu schmerzhaft detailliert berichtet Roach von einer dieser Prozeduren, der sie beiwohnen durfte. Und sie erkundet andere kreative Wege, der Impotenz beizukommen – bis hin zum Verzehr und der Transplantation tierischer Hoden.

Auf der anderen Seite widmet Roach fast ein ganzes Kapitel der unbefriedigten Prinzessin Marie von Griechenland. Deren Theorie, die zu große Distanz zwischen ihrer Klitoris und Vagina liefere eine wissenschaftliche Erklärung für den freudlosen Sex sowohl mit ihrem Ehemann George, als auch mit mindestens fünf anderen Männern erwies sich jedoch als fragwürdig: Zwei Versuche, die Entfernung mit Operationen zu verkürzen, brachten keinerlei Erfolg. Selbst Haustiere hätten besseren Sex als sie und ihre Geschlechtsgenossen, klagte die Prinzessin. Dass Orgasmen sich auch herbeidenken lassen, wusste die Prinzessin offensichtlich nicht. Bei Mary Roach hätte sie es aber erfahren.

Roach hat vor Bonk bereits ein erfolgreiches Sachbuch geschrieben, das inzwischen auch ins deutsche übersetzt wurde: In „Die fabelhafte Welt der Leichen“ geht es darum, was man mit menschlichen Kadavern so alles anstellen kann. Sie sei nicht von Sex und Tod besessen, glaubt Roach, sich gegenüber ihren Lesern rechtfertigen zu müssen. Aber dass sie bei ihren Recherchen häufig dem gleichen Misstrauen, den Ängsten, Verdächtigungen und Vorurteilen begegnete wie die Männer und Frauen, die den Sex erforschen, ist auch ein Teil der Geschichte, die dieses Buch erzählt und die „Bonk“ umso authentischer macht.

Mary Roachs Buch ist keine Gebrauchsanleitung, kein Nachschlagewerk, kein Porno und auch keine Literatur. Aber es ist ein brilliant geschriebenes, gründlich recherchiertes, sehr lustiges und zugleich lehrreiches Sachbuch mit dem Zeug zum Bestseller. Wie wichtig Größe ist, bleibt unbeantwortet. Aber falls es einen G-Punkt gibt, hat Mary Roach ihn mit „Bonk“ zu 100 Prozent getroffen.

Besuch im Newseum

Newseum? Das laut Eigendarstellung „interaktivste Museum der Welt“ verdankt seinen Namen nicht etwa einem Druckfehler, sondern einem Wortspiel. Hier dreht sich alles um „News“, um Nachrichten also und darum, wie sie gemacht werden und von wem. Etwas holpriger klingt das im „Mission Statement“. Demnach ist es das erklärte Ziel des Newseums, einen Treffpunkt zu bieten, wo Medien und Öffentlichkeit aufeinander treffen und lernen, einander besser zu verstehen.

Eröffnet im Frühjahr 2008, finanziert und unterhalten aus den Spendengeldern der Stiftung „Freedom Forum“ zählt das Newseum für mich zu den größten Sehenswürdigkeiten in der an Attraktionen gewiss nicht armen US-Hauptstadt Washington.

O.k. – das hat vielleicht auch ein ganz klein wenig damit zu tun, dass ich mich als Journalist gebauchpinselt fühle, weil endlich mal jemand zeigt, wie toll und wichtig die Arbeit ist, die unsereins so leistet. Und außerdem – jawohl, ich gebe es zu – blieben mir die 20 Dollar Eintritt erspart, da ich zu den Gästen gehörte, die hier zum Empfang der Präsidentin auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience eingeladen waren.

Gelegen in Blickweite des Capitols zeigt das Newseum seinen Besuchern schon auf der Straße, worum es hier geht: In Marmor gehauen ziert die Vorderseite des Gebäudes das „First Amendment“, der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Er wurde 1791 verabschiedet und schützt Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Petitonsrecht vor Eingriffen durch den Staat. Wörtlich heißt es:„Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.“

Schon auf der Straße fallen die aktuellen Titelseiten Dutzender amerikanischer und internationaler Zeitungen ins Auge. Wer eine bestimmte Zeitung sucht, hat gute Chancen, diese auf einem der zahlreichen Monitore im Inneren zu finden – sortiert nach Alphabet oder Ländern.  Auf Laufbändern und Fernsehmonitoren im ganzen Gebäude prasseln die Nachrichten auf den Besucher ein – alleine 130 Fernsehsender hat das Newseum abonniert, deren Inhalte von einem für die Besucher einsehbaren Kontrollraum aus überwacht und je nach Bedarf in den verschiedenen Abteilungen zu- oder abgeschaltet werden können.

Interessante und interaktive Ausstellungen finden sich sowohl im Museum selbst als auch auf dessen Webseite, und wer sich traut, kann sogar selbst als Reporter aktiv werden und seine Ansage dem Newseum und seinen Besuchern als Video zum Download zur Verfügung stellen.

Wie sehr unsere Sicht der Welt von Nachrichten geprägt wird, daran erinnert bereits im Eingangsbereich ein Stück der Berliner Mauer – komplett mit Wachturm und der dazugehörigen Dokumentation. Ein Stockwerk darüber steht einsam im Raum ein von der Hitze des Feuers grotesk verbogener Stahlträger aus dem Inneren des World Trade Centers. Im Hintergrund die Titelseiten der Zeitungen vom Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Die Macht der Bilder veranschaulicht die Sammlung von Fotografien, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurden. Kriege, Mord und Gewalt, Flüchtlingslager, Hunger- und andere Katastrophen sind die häufigsten Motive, versehen mit Erklärungen der Fotografen, warum sie es trotzdem geschafft haben, in diesen Augenblicken den Auslöser zu drücken. Daneben aber auch zahlreiche Aufnahmen, die Hoffnung machen, sei es die Geburt eines Babies oder der Blick des freundlichen Polizisten und die vertrauensseelige Erwiderung durch den kleinen Jungen, der am Rande einer Demonstration verloren gegangen ist.

Ein „Journalist Memorial“ erinnert an die Menschen, die sterben mussten, weil sie aus Krisengebieten berichten wollten, Umweltskandale aufdeckten oder Verbrecher entlarvten. Im Raum steht der von Kugeln durchsiebte Pickup-Truck eines Kriegsreporters aus Bagdad. An den Wänden die Gesichter und Namen derjenigen, die ihr Leben ließen für ihre Berichte. Journalisten, die mit ihrer Arbeit nicht nur die Auflage und die Quoten ihrer Auftraggeber erhöhten, sondern die mitunter auch Leben gerettet haben, weil sie die öffentliche Meinung mobilisiert und letztlich auch die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen gezwungen haben.

Die freie Presse ist einer der Eckpfeiler der Demokratie, lautet die vielleicht wichtigste Botschaft des Newseums. Aus Nachrichten wird Geschichte und Journalisten sind es, die heute die ersten Entwürfe unserer Geschichte verfassen. Und wenn diese Journalisten richtig gut sind, enthüllen sie dabei die Wahrheit.

Buchbesprechung: Unknorke von Lars Niedereichholz

Als „Der wahrscheinlichst lustigste Roman des Jahres“ wird das schmale Büchlein Unknorke beworben. Wer das gesagt hat, erfahren wir leider nicht und ich will hoffen, dass er unrecht hat. Amüsant? Ja sicher. Auch ist es nett zu lesen, wie der Komiker Lars Niedereichholz – bekannt als die eine Hälfte des Komiker-Duos Mundstuhl – sich hier einen Spaß daraus macht, alle (oftmals allzu wahren Klischees) über die Anhänger der Ökobewegung zu bedienen.  So kann man durchaus einen verregneten Sonntag-Nachmittag damit verbringen, Marc, dem Helden der Geschichte zu folgen, dessen Kindheit nach 16 Semestern VWL-Studium und der Schwangerschaft seiner Freundin Nadja ein plötzliches Ende nimmt. Weil die anderen 28 Kreditinstitute, Sparkassen und Versicherungen seine Bewerbung mit einem freundlichen Standardschreiben samt Unterlagen prompt zurück geschickt haben, landet Marc bei der Alternativen Multikulturellen Ökologie Bank, kurz AMÖB. Dort sagt er beim Vorstellungsgespräch den einzigen Satz, den die durchgeknallten Ökos hören wollen: „Ja, ich möchte die Welt ein kleines bisschen besser machen.“ Von da an gibt Marc sein bestes, um es allen recht zu machen: Allen voran die  GeschäftsführerInnen Almut („mit heruntergezogenen Mundwinkeln und den dazu passenden Schlupflidern“) und Arnulf („schütteres Haar zu einem erbärmlichen Zopf gebunden, mit übergroßer Brille aus knallgelbem Plastik“), aber auch die Kollegin Jacqueline, die barfuss geht und in den Mittagspausen chantet, „vergleichbar mit einem defekten Vesparoller ohne Schalldämpfer – `Remngnangaremnremnremngnagnagremn…´“ oder Jockel, der überaus cholerische, kleine und pedantische Chef des Marktbereichs bei der AMÖG, der zuvor Lehrer an einer Behindertenschule war aber behauptet, es habe sich um eine Waldorfschule mit integriertem Zweig gehandelt. So geht es weiter, bis die Geschichte nach 160 Seiten mit Marcs Entlassung eine nicht wirklich überraschende Wendung nimmt und einem Happy-End zustrebt, wie man es in ähnlicher Form schon allzu oft gelesen hat.  Weitere Details würden jenen potentiellen Lesern, die auf leichte Unterhaltung aus sind, den Spass nehmen und das kann ja keiner wollen. Außerdem ist das Buch Bon Scott, Jim Morrison, Jimi Hendrix, Mama und Papa gewidmet und wer so etwas tut, kann ja kein schlechter Mensch sein. Im Gegenteil. Ne Du? Also, wenn Du dann mal 12 Euro übrig hast und Dir partout nichts besseres einfällt für den verregneten Sonntag-Nachmittag, dann hol´s Dir doch, das Buch. Und zwar hier:

Buchbesprechung: Wer´s glaubt, wird selig von Dieter Nuhr

Eine ziemlich lustige Abrechnung mit Esos, Ökos, Ignoranten, Dumpfbacken, religösen und anderen Fanatikern, gepaart mit einem ordentlichen Schuss Philosophie, gewürzt mit einigen Anleihen aus der Hirnforschung. Kein Wunder, dass mir dieses Buch gefällt, bestätigt es doch im Wesentlichen mein eigenes Weltbild. Oder sind es nur meine Vorurteile? Und wo ist der Unterschied? Gar nicht so einfach, einfache Antworten zu finden, wenn man sich einmal entschlossen hat, die graue Masse zwischen seinen Ohren zu nutzen.

Worum es geht und was der Leser davon hat, dieses Buch zu lesen, beschreibt Autor Dieter Nuhr folgendermaßen: „Mit diesem Buch haben Sie endlich einen Überblick. Es stellt dar, woran der Mensch glaubt, und warum er so bekloppt ist, den ganzen Krempel nicht gleich als Humbug zu erkennen.“ Von dem vielfach preisgekrönten (aber was heißt das schon?) Komiker und Philosophen Nuhr stammt der Ausspruch: „Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal die Fresse halten.“ Diese Botschaft transportiert auch dieses Buch und obwohl das ziemlich arrogant klingt, so darf sich ein Schlaumensch wie Nuhr diesen Ratschlag wohl erlauben, zumal er es wie kaum ein Anderer es versteht, seine Angriffe gegen die grassierende Dummheit ausgesprochen lustig zu verpacken.

Dass Nuhr ein schlauer Mensch ist, hat ihm übrigens gerade der Mensa e.V. bestätigt: Dieser Verband der Hochbegabten verlieh dem Wortkünstler gerade den IQ-Preis 2008. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich lohnt, über Nuhr nicht nur zu schmunzeln, sondern auch ´mal nachzudenken, findet sich auf dessen Webseite. Sein Gästebuch musste der Arme nämlich schließen, weil – Zitat – „Da versammeln sich Nazis und alte Sozialisten aus der Stalinschule mit Emanzipationsgeschädigten und Verteidigern von Steinigungen und Auspeitschungen.“ Viel Feind, viel Ehr, würde ich sagen, aber ich schweife ab.

Zurück zum Buch, das sich dem Grundproblem widmet, dass Menschen auch den größten Unsinn glauben, weil sie so wenig wissen. Und woher weiß Nuhr, dass er nicht nur glaubt, wenn er behauptet, dass das 3:2 gegen England in Mexiko in der Verlängerung durch Gerd Müller erzielt wurde? Antwort: „Es handelt sich um eine in meinem Gehirn gespeicherte Geschichte, die dadurch zur Wahrheit wird, dass sie sich mit der Erinnerung anderer deckt“. Vielleicht denkt er aber nur, dass er denkt, könnte man da einwenden oder sich anderer philosophischer Spitzfindigkeiten bedienen. Gut so! Zwar weiß ich nicht, ob Nuhr tatsächlich vorsätzlich seine Leser dazu verführt, über den Sinn des Lebens nachzudenken, aber intelligente Menschen werden sich diesen schön verpackten Denkanstößen wohl kaum verweigern wollen. Ein weiterer Pluspunkt des leicht und schnell zu lesenden Büchleins ist Nuhrs Sammlung von originellen Reisefotos. Sie belegen, dass der Mann nicht nur im stillen Kämmerlein vor sich hin gebrütet hat, sondern tatsächlich in die große weite Welt hinaus gezogen ist, um sich eine Meinung zu bilden. „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“, hat Goethe dazu gesagt. Mag sein, aber bei Nuhr klingt das einfach eine Prise lustiger: „Nichts bringt die Relativität der menschlichen Geisteskraft so zum Leuchten wie Reisen. Man kommt nach Hause und weiß: Ich bin nicht der einzige Verrückte! Es gibt Milliarden!“

Singapur renoviert mit Gefühl

Auch in Singapur hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass prall gefüllte Einkaufszentren, Luxushotels und steil aufragende Bürogebäude wenig zum Charme einer Stadt beitragen. Deutliches Zeichen für frisch gewonnene Einsichten ist ein milliardenschwerer Feldzug, mit dem die ethnischen Bezirke des Stadtstaates zu neuem Leben erweckt werden sollen.

Zusammen mit dem privaten Sektor fließen etwa drei Milliarden Mark in die Erhaltung und Renovierung so beliebter Viertel wie Chinatown, Little India, Arab Street und Kampong Glam. Gerade westliche Touristen lassen sich gerne von der Exotik dieser Bezirke verzaubern. Dort in den faszinierenden alten Ladenhäusern nach einheimischen Erzeugnissen zu stöbern vermittelt mehr vom Zauber Asiens, als jede noch so prunkvoll gestaltete Hotellobby.

Die Skyline von Singapur im Jahr 1989 – Gerade noch rechtzeitig hat man begonnen, das Erbe zu bewahren und viele historische Gebäude vor dem Abriss gerettet (© Michael Simm)

Denn die alten Viertel haben sich ihre Eigenheiten bewahrt. In Chinatown etwa wird das Straßenbild geprägt von Händlern, deren Läden mit Haushaltswaren, tropischen Früchten und exotischen Gewürzen überladen sind. Stinkfrüchte (Durians) locken mit ihrem Aroma die Einheimischen – und stoßen die Fremden ab.

Körbe voller getrockneter Pilze, Meeresgetier und anderer Köstlichkeiten lassen die heimische Küche ärmlich und phantasielos erscheinen. Von den Balustraden der zweigeschossigen Häuser hängen Bambuskäfige, in denen Singvögel zwitschern. Kalligraphen verzieren rotes Glückspapier mit Goldbuchstaben oder schreiben Briefe für alte Leute. Auch Apotheken fehlen nicht, in denen Freunden der Naturheilkunde zu jedem denkbaren Wehwehchen der entsprechende Pflanzenextrakt geboten wird, oder auch ein Pülverchen aus den Weichteilen von allerlei Getier.

Diese Idylle wäre in den letzten Jahren beinahe zerstört worden. Das Ministerium für nationale Entwicklung begann bereits in den frühen sechziger Jahren mit einer Stadterneuerung, bei der die Beseitigung der Elendsviertel und die Umgestaltung des Stadtkerns im Mittelpunkt standen. Mittlerweile reihen sich in der City Bürogebäude, Einkaufszentren und Hotels aneinander. Ganze Straßenzüge des alten Chinatown mussten eintönig-farblosen Mietskasernen weichen. Doch damit nicht genug: Auch der Singapur River wurde 1983 „aufgeräumt“, seiner Boote, Frachter und Dschunken beraubt.

Dann begann man umzudenken. Unter der Leitung des Amtes für städtische Erneuerung (URA) richtete sich das Augenmerk zunehmend auf die Erhaltung des historischen Viertels Singapurs. Eine „qualitativ hochwertige Lebens- und Arbeitsumgebung“ wollte man im Stadtkern schaffen. Gleichzeitig war sich die Behörde aber über die Anziehungskraft auf die Touristen klargeworden, die von den alten Bezirken ausgeht. Schließlich erhofft man sich, noch in diesem Jahr eine Besucherzahl von fünf Millionen zu überschreiten.

Im Dezember 1986 wurde dann der „Conservation Master Plan“ angekündigt. Insgesamt sind darin über 100 Hektar des alten Singapurs erfasst, denen ein bedeutender historischer und architektonischer Wert zugeschrieben wird. Damit die Renovierungsarbeiten nicht nur auf den öffentlichen Grundstücken durchgeführt werden, wurden Richtlinien erlassen, die auch die private Beteiligung an dem Projekt regeln.

Im Mittelpunkt der Bemühungen stehen Gebäude aus der Jahrhundertwende ebenso wie viele neoklassizistische Bauwerke aus Singapurs Kolonialzeit. Besonders die chinesischen Ladenhäuser mit ihren ebenerdigen Geschäften und den darüber liegenden Wohnungen sollen mit neuem Leben erfüllt werden. Der manchmal als „Palladio-Chinesisch“ bezeichnete Stil, in dem die wohlhabenden Chinesen ihr Zuhause gestalteten, prägte lange Zeit den Charakter der Stadt. Typisch für diese Bauweise war eine Mixtur aus ornamentgeschmückten Pilastern, Falttüren und venezianischen Fenstern. Die Fassaden waren meist in delikaten Pastelltönen gehalten, die Dächer mit Terrakottaziegeln bedeckt: Später zerfielen die Häuser allmählich, viele wurden von Baggerzahn und Abbruchbirne beiseite geräumt, was übrigblieb, war noch vor kurzem in einem bedauernswerten Zustand.

Doch mittlerweile sind die Renovierungsarbeiten in vollem Gang, erste Ergebnisse sind vorzuweisen. In Tanjong Pagar, einem Teil Chinatowns, beziehen chinesische Händler die ersten schmucken Geschäfts- und Bürohäuser. Neue Restaurants werden eröffnet, wo vor Jahresfrist noch Ruinen standen. Weitere sanierungsbedürftige Gebäude werden an Privatleute verkauft, die den Umbau dann in die eigenen Hände nehmen. Auch die Bugis Street soll wiederauferstehen, allerdings als Nachbau in der benachbarten Victoria Street. Dort, wo sich bis 1985 noch das Nachtleben Singapurs abspielte, steht jetzt nämlich ein Bahnhof der städtischen Metro.

Wie Catherine Quah, stellvertretende Direktorin der Tourismusbehörde, erklärte, waren die Gebäude nicht an die Kanalisation angeschlossen. Es wäre demnach zu teuer gekommen, Bugis Street an Ort und Stelle zu bewahren. Ob auch die „neue“ Bugis Street, die man liebevoll mit vielen Originalteilen rekonstruiert, die Nachteulen der Stadt anlocken kann, wird die Zukunft zeigen müssen. Ein dem Original nachempfundenes Freiluftrestaurant und eine Bühne für Gaukler, Akrobaten und Straßenkünstler beweisen jedenfalls, dass sich die nostalgischen Anwandlungen der URA nicht nur auf historische Monumente beschränken.

Ein solches Monument ist sicherlich das alte Viertel aus der Kolonialzeit. Dort hatte der im viktorianischen Stil gebaute Empress Place mehr als 100 Jahrelang als Gerichts- und Verwaltungssitz gedient. Mit 25 Millionen Mark wurde das Gebäude, das schon leichte Ermüdungserscheinungen gezeigt hatte, wieder herausgeputzt. Seit dem Abschluss der Renovierungsarbeiten im April des vergangenen Jahres werden auf 8000 Quadratmeter Fläche wechselnde Ausstellungen geboten. Damit ist der Empress Place eines der größten Museen in ganz Asien.

Natürlich darf bei all diesem Aufwand auch das Raffles Hotel nicht fehlen. Die „Grand Old Lady“ des Ostens erfährt eine Verjüngungskur die weit über 100 Millionen Mark kosten wird. Derzeit werden alle Zimmer des berühmten Kolonialhotels in Suiten umgebaut, jeweils ausgestattet mit Teakholzböden, traditionellen Deckenventilatoren und all dem Glanz der zwanziger Jahre. Richard Helfer, der Direktor der Hotelgesellschaft, hat eigens eine weltweite Suche nach dem Erbe des Raffles initiiert, um den Architekten und Restauratoren eine möglichst genaue Vorstellung von der vergangenen Pracht zu verschaffen. So dienen nicht nur die Erinnerungen des Schriftstellers Sommerset Maugham sondern auch ein in Austin, Texas, aufgetauchtes Notizbuch aus dem Jahr 1906 der liebevollen Pflege der Nostalgie. Ab Sommer nächsten Jahres können sich dann alte und neue Bewunderer des Raffles vom Erfolg der Arbeiten überzeugen.

(in gekürzter Form erschienen am 14. Februar 1990 im WELT-Report Singapur)

Die sauberste U-Bahn der Welt

Obwohl Singapur nicht einmal drei Millionen Einwohner hat, braucht die Metro des Stadtstaates den Vergleich mit den weltbesten Verkehrssystemen nicht zu scheuen: Mit fast 70 Kilometern ist das Streckennetz des „Mass Rapid Transit“ (MRT) erheblich länger als die gesamte Insel. Während der Stoßzeiten rollen die blitzsauberen Züge im Vierminutentakt, transportieren täglich bald 300 000 Menschen durch dunkle Tunnels oder über hochstelzige Viadukte.

Kein Platz für Schmutzfinken: Rauchen und Essen wird in Singapurs Metro richtig teuer.

Dabei spiegeln sich die Eigenheiten dieser Stadt an den Wänden der Haltestationen: schnell, zuverlässig, sicher und sauber, vor allem sauber geht es hier zu. Rauchen, essen, trinken – alles wird mit einer saftigen Geldstrafe von rund 500 Mark geahndet. Nicht zu übersehen sind die Hinweistafeln, die auf Englisch, Chinesisch, Malaiisch und Tamil davor warnen, auch nur einen Papierschnitzel fallen zu lassen.

Graffiti? – Undenkbar. Nicht einmal gebrauchte Fahrkarten sind auf dem Boden zu sehen. Die Erklärung liegt auf der Hand: Die kleinen, mit einem Magnetcode versehenen Plastikkärtchen werden bei Verlassen der Stationen elektronisch auf ihre Gültigkeit überprüft und verschwinden dann im Bauch der automatischen Wächter. Wenig später tauchen sie in den Ticketautomaten wieder auf, wo die Fahrscheine beim Kauf neu kodiert werden.

Selbst chronisch Orientierungslosen dürfte es in Singapur schwer fallen, den falschen Zug zu besteigen. Zwei sich kreuzende Strecken führen in alle vier Himmelsrichtungen: Blau nach Westen, Grün nach Osten, Gelb nach Norden, Rot nach Süden; so einfach kann Metrofahren sein. Mit 50 Pfennig ist man dabei; auch Strecken über 30 Kilometer Länge kosten wenig mehr als eine Mark. In diesem Preis enthalten ist ein Luxus, den der Besucher nicht ohne weiteres erwartet hätte: Eine Klimaanlage bietet in Haltestationen und Zügen Schutz vor der schwülheißen Witterung der Tropeninsel.

Um unnötige Energieverluste zu vermeiden, sind die Bahnsteige von den Gleisanlagen durch Schiebetüren getrennt. Fährt ein Zug auf einer Haltestation ein, öffnen sich diese Schiebetüren synchron mit denen der weiß-roten Züge. Dann bleiben den Passagieren noch knapp 30 Sekunden, bevor sich die Türen schließen und die Züge wieder mit bis zu 80 Stundenkilometern davonbrausen.

Die aufwendige Konstruktion ist weltweit einmalig und hilft die Energiekosten um die Hälfte zu senken. Ein derart vorbildliches System hat natürlich seinen Preis: Etwa fünf Milliarden Mark wurden investiert, um die Stadt vor dem Verkehrsinfarkt zu retten. Nur noch wenige Stationen fehlen, bis auch der letzte Bauabschnitt in Betrieb gehen kann – genau nach Plan, versteht sich.

(erschienen im WELT-Report Singapur am 14. Februar 1990 als Nebenprodukt einer Recherche-Reise zum Thema Zahntourismus)