Da ich seit gestern nicht mehr mit Bus und Bahn unterwegs bin, sondern einen Mietwagen habe, sind nun mehr Ziele in kürzerer Zeit zu erreichen. Und in Baedekers empfehlenswertem Sardinien-Reiseführer finde ich einen Tourenvorschlag südlich von San Teodoro, der mit 190 Kilometern Länge an einem Tag zu bewältigen sein sollte. Noch etwas weiter südlich liegen die Traumstrände Cala Goloritze und Cala Mariolu, die bei den Most Travelled People weltweit unter den Top 150 rangieren. Das habe ich mir jedoch aus dem Kopf geschlagen. Der Grund dafür sind hauptsächlich die Besprechungen bei Google Maps, aus denen hervorgeht, dass beide Strände zwar tatsächlich wunderschön sind, aber eben auch ziemlich überlaufen und nur mit länglich-schwierigen Wanderungen bzw. in der Saison auf einer Bootstour zu erreichen.
Ganz anders sieht es in Posada aus, ein schönes Bergdorf mit 3000 Einwohnern und mein erster Stopp für heute. Ich bin offenbar der einzige Tourist hier. Obwohl ich noch nicht gefrühstückt habe, lasse mich von den lärmenden Reggae-Klängen der einzigen offenen Trattoria im Dorfkern nicht einfangen. Stattdessen streife ich durch die Gassen am steilen Hang. Die sind tatsächlich an manchen Stellen so eng, dass keine zwei Leute nebeneinander laufen können. Der Aufstieg zur Burgruine ist verschlossen, was ich mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nehme. Sonst hätte ich ja auf leeren Magen da auch noch hinaufkraxeln müssen! Auf dem Rückweg bin ich der einzige Kunde in der feinen Konditorei Bacciu, wähle drei Kekse und ein mit Limonenpudding gefülltes Croissant aus, und fahre weiter die Küste entlang nach Süden.
In Orosei fahre ich direkt zur Marina, und sitze eine halbe Stunde an einem weiteren Traumstrand. Obwohl… Man ist ja nun das Besondere gewohnt. Und dieser hier hat im Vergleich zu San Teodoro einen fast schon grob gekörnten Sand. Der umschmeichelt die Füße längst nicht so wie der Vorgänger und kriegt daher Punktabzug. Nebenan stehen zwei deutsche Motorradfahrer, die sich ihrer Klamotten weitestgehend entledigt haben, und von denen der eine sogar recht ausgiebig schwimmen geht. Respekt, sage ich mir, und fahre gegen Mittag weiter.
Ein Blick auf die Uhr und ein weiterer auf die Karte bedeuten mir, dass ich mir ein wenig sputen muss, wenn ich meine geplante Wanderung heute noch in Angriff nehmen will. Unversehens finde ich mich auf dem Weg dorthin in dem „Banditendorf“ Orgosolo wieder, das der Legende nach aus den Nachkommen lauter Widerspenstiger und Gesetzloser besteht.
Berühmt ist das Dorf durch seine -zig Wandgemälde, auf denen die eigene Geschichte glorifiziert und alle anderen als dumme Aggressoren dargestellt werden. Das Ganze lässt sich natürlich prima an die zahlreichen Touristen verkaufen. Ich erinnere mich daran, dass es stets die Sieger sind, die Geschichte schreiben. Und heute vielleicht auch die, mit der besseren Pressearbeit. Würde ja gerne wissen, wie das wirklich gewesen ist. Vielleicht hat nur mal einer keinen Bock gehabt, seine Steuern zu zahlen. Dann ist es eskaliert, die Wutbürger von Orgosolo haben sich durchgesetzt, fleißig an ihrer Legende gestrickt und diese später auch noch erfolgreich „monetarisiert“.
Wie dem auch sei, flüchte ich vor den Klischees und der Hitze in einen sardischen Fast-Food-Laden, wo ich geduldig auf meine Panini mit Hackfleischfüllung warte, die ich mit einem Bier hinunter spüle. Dann geht es gleich weiter und so schaffe ich es auch noch in den Nationalpark Gennargentu, einen von drei auf der Insel. Mit vollem Namen heißt er „Parco Nazionale del Golfo di Orosei e del Gennargentu“, und dies weist schon darauf hin, dass der Park mit seinen 74000 Hektar von der Küste bis zu den höchsten Gipfeln der Insel reicht.