Buchtipp – Die Vermessung der Welt

Wer literarisch auf dem Laufenden ist, wird sich wohl angesichts dieses Buchtipps gähnend zurück lehnen und fragen: „Wieso erst jetzt? Wo war der Michel eigentlich in den letzten fünf Jahren?“ Nun ja, kann ich zu meiner Entschuldigung nur vorbringen, „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann stand schon lange auf meiner Lese-Liste.
Und auch wenn diese fantastische Doppelbiografie der deutschen Gelehrten Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt inzwischen wieder aus den Bestsellerlisten verschwunden ist, so unterscheidet sie sich doch wohltuend von so vielen Eintagsfliegen, die dorthin nur Dank eines cleveren Marketings und gewaltiger Werbekampagnen gekommen sind.

Porträtiert werden mit leisem Humor zwei sehr gegensätzliche Genies: Der Mathematiker und Astronom, Physiker, Erfinder und Landvermesser Gauß, der wohl sein ganzes Leben am liebsten in den eigenen vier Wänden verbracht hätte. Starrköpfig kommt er daher und taktlos. Ist bar jeglicher sozialen Intelligenz und allzeit ungeduldig mit seinen Zeitgenossen, die er fast alle für Idioten hält. Gauß´ geistigen Höhenflügen zu folgen ist mir trotz der überaus lebendigen Schilderung seines Wesens nur in Ansätzen gelungen und mit Sicherheit hätte der Mann mit der Mütze auch mich zu den Schwachmathen gezählt, die man eigentlich nur bedauern kann. Das nagt zwar ein wenig am Selbstbewusstsein, tat meinem Lesevergnügen aber keinen Abbruch.

Weitaus mehr Verständnis brachte ich für Humboldt mit, den Forscher und Entdecker, der unter Einsatz seines Lebens jeden noch unbekannten Winkel der Erde studieren wollte, der Steine, Tiere und Pflanzen sammelte, der jeden Berg besteigen und vermessen musste, Urwälder durchquerte und der sieben Jahrzehnte lang wie kein anderer das Wissen über die Welt vermehrte. Ein Abenteurer war er noch dazu. Seine Beliebtheit noch zu Lebzeiten hat womöglich auch damit zu tun, dass er all die Herausforderungen bestanden hat, von denen viele als Kinder geträumt haben – und für die wir dann am Ende doch zu bequem waren.

Gauß lebte von 1777 bis 1855, Humboldt von 1769 bis 1859, und von wenigen Ausnahmen abgesehen entwickelt sich beider Leben in dem Roman abwechselnd in getrennten Kapiteln. Gleichzeitig nutzt Kehlmann historische Berührungspunkte ebenso wie die Seelenverwandschaft der beiden Protagonisten, um die Biografien geschickt miteinander zu verknüpfen.

Den Hunderten von Besprechungen des Romans habe ich wenig hinzu zu fügen, und eine Inhaltsangabe hielte ich für verschwendete Zeit. Was das Buch für mich zum Geniestreich macht ist die äußerst lebendige Darstellung der großen Wissenschaftler mit ihren ach so menschlichen Schwächen, die liebevolle Betrachtung und auch das durchschimmernde Mitleid für zwei Menschen, die ihrer Zeit weit voraus waren und neben denen sich die meisten Stars unserer Zeit eigentlich in Grund und Boden schämen müssten.

Mit seinen rund 300 Seiten bietet dieses Taschenbuch je nach Tempo Lesevergnügen für ein ganzes Wochenende. Danach habe ich es – gleichermaßen amüsiert wie inspiriert – zufrieden geschlossen und in meinen Bücherregalen einsortiert. Angesiedelt zwischen Reiseberichten, Abenteuerromanen und (Wissenschafts-)Biografien hat Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ dort einen Ehrenplatz bekommen und wartet nun auf seinen nächsten Leser, von dem ich es aber ganz bestimmt zurück haben will!