Buchbesprechung: Tipping Point von Malcolm Gladwell

Darf man das? Ein Buch besprechen, das man nicht zu Ende gelesen hat? Sei´s drum – dies ist mein Blog und hier mache ich, was ich will. Auf Seite 213 von 300 war meine Geduld mit „The Tipping Point“ von Malcolm Gladwell (gelesen habe ich die englischsprachige Taschenbuchausgabe) jedenfalls zu Ende und wenn ich es recht bedenke, verlor ich das Interesse an diesem US-Nationalen Nr. 1-Bestseller wohl schon in der Mitte des Buches. „Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ lautet der Untertitel des Schmökers. Dies ist ein Thema, das mich interessiert und außerdem lag das Buch auf dem Tisch mit dem großen Schild „buy 1, get 1 half price“. Jetzt aber genug der Entschuldigungen.

Der „Tipping Point“, das ist laut Buchdeckel jener „magische Moment, an dem eine Idee, ein Trend oder ein soziales Verhalten eine Schwelle überschreitet, umkippt, und sich wie ein Flächenbrand ausbreitet.“ Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, die erklären könnten, wie es zu diesem Umkippen kommt, beschäftigt den Autor Malcom Gladwell, der zehn Jahre lang als Reporter für die Washington Post gearbeitet hat, erst als Wissenschaftsjournalist, und dann als Leiter des New Yorker Büros. Als Business-Ratgeber sei das Buch großartig, lobte denn auch ein Kritiker, denn der „Tipping Point“ stecke voller neuer Theorien über die Wissenschaft der Manipulation.

Epidemien, behauptet Gladwell, gingen immer von einigen wenigen Leuten aus. Claro, würde ich entgegnen, denn sonst wären es ja keine Epidemien. Aber Gladwell hat noch mehr entdeckt: die Schlüsselpersonen, die eine Epidemie verbreiten, ließen sich anhand ihres speziellen Charakters und ihrer Talente in drei Gruppen unterscheiden: Die „Connectors“, das sind grob gesagt Leute, die sehr viele Leute kennen. Die „Mavens“ sind diejenigen mit Ahnung. Experten also, oder wandelnde Lexika, die noch dazu ein tiefes Bedürfnis haben, ihr Wissen anderen mitzuteilen. Und natürlich dürfen auch die „Salesmen“ nicht fehlen – gute Verkäufer die eine Idee oder ein Produkt an den Mann bringen. Als Beispiel muss die Wiederentdeckung der Hush Puppies herhalten, einer Reihe von Schuhen, die jahrzehntelang immer weniger verkauft wurden und dann binnen weniger Jahre Bestseller wurden, nachdem ein paar New Yorker Jugendliche sie für cool befunden hatten. Auch die amerikanische Revolution, hätte Gladwells Logik zufolge nicht stattgefunden oder wäre anders verlaufen, wenn Paul Revere (er warnte die Kolonialisten vor den heran rückenden britischen Truppen) ein anderer Mann gewesen wäre.

Dann ist da noch die Feststellung „Little things can make a big difference“. Natürlich kann man, wie Gladwell das tut, große Ereignisse so lange unter die Lupe nehmen, bis man einen scheinbaren Schlüsselfaktor entdeckt, ohne den das Ganze nicht statt gefunden hätte. Man kann aber auch den Standpunkt vertreten, dass irgendwann das Fass voll ist und dass der berühmte Tropfen, der zum Überlaufen führt, jede x-beliebige Kleinigkeit sein kann. Gladwell geht den ersten Weg und arbeitet nach dem Motto: „Was nicht passt, wird passend gemacht“.

Zugegeben: Gladwell schreibt angenehm flüssig, sei Stil ist lebendig und er ist leicht verständlich. Aber sein Bemühen – oder sollte ich sagen, seine Masche? – Gesetzmäßigkeiten herzuleiten, wo andere lediglich den Zufall am Werk sehen, wirkt streckenweise sehr ermüdend und vor allem sehr unwissenschaftlich. Spannend wird es dort, wo der Autor über die Verbreitung von Aids und Syphilis schreibt oder über das plötzliche Verebben eine Welle von Gewaltverbrechen in New York City, nachdem Bernie Goetz in der U-Bahn vier Schwarze nieder schoss und dadurch fast zum Volksheld wurde. Allerdings hat man diese Erzählungen anderswo auch schon gelesen und es beschleicht einen der Verdacht, dass hier Dinge in ein Schema gepresst werden, um eine vorgefasste Meinung zu untermauern. Eine saubere Recherche oder gar wissenschaftliche Arbeit, bei der auch andere Erklärungsmöglichkeiten überprüft würden, sieht jedenfalls anders aus.

Geradezu absurd wird es, wenn am Beispiel der Sesamstraße minutiös-langatmig erklärt wird, wie deren Macher durch fleißiges herum experimentieren zum Erfolg kamen oder wenn die religiöse Gemeinschaft der Hutterer, die Armee und die Firma Gore-Tex dafür herhalten müssen, die Zahl 150 zur magischen Obergrenze für erfolgreiche Gruppenarbeit zu erklären.

Nein, Herr Gladwell, so geht das nicht. Der Ansatz ist löblich, die Frage wichtig, doch in der Ausführung halte ich dieses Projekt für gescheitert. Abgesehen von einigen netten Anekdoten habe ich von dieser Lektüre nichts zurück behalten außer der Verwunderung darüber, wie ein Buch mit derart löchriger und angreifbarer Argumentation auf Platz 1 der (amerikanischen) Bestsellerliste klettern konnte. Wer mir nicht glaubt und sich lieber eine eigene Meinung bildet, kann hier das Original oder die deutsche Übersetzung bestellen und hilft damit, weitere Kritiken zu finanzieren.

Buchbesprechung: Atatürks Kinder von Hans-Joachim Löwer

Was sind das eigentlich für Menschen, die Türken? Wie leben sie in ihrem Land? Und wie denken sie über sich, über uns, über Gott und die Welt? Fragen, die mich bislang allenfalls am Rande interessierten, wurden im Frühsommer 2009 auf einmal wichtig. Nicht als ahnungsloser Touri wollte ich den zweiwöchigen Urlaub in  Istanbul und in Kiyiköy am Schwarzen Meer verbringen, sondern als Reisender. Respektvoll, aber nicht unkritisch. Mit wachen Sinnen und stets bereit, Neues zu lernen, meine Vorurteile zu überprüfen und gegebenenfalls auch zu korrigieren.

Wenn es Ihnen genau so geht, kann ich „Atatürks Kinder“ von Hans-Joachim Löwer nur wärmstens empfehlen.

Löwer, der 16 Jahre lang Auslandsreporter des „Stern“ war, durchreiste für dieses Buch die Türkei von Ost nach West mit leichtem Gepäck um – so der Klappentext – „ihren Menschen nahe zu kommen und zu verstehen, wie sie sich und ihre Zukunft in Europa sehen“. Das Ergebnis sind 30 einfühlsame, elegant geschriebene Porträts äußerst unterschiedlicher Menschen. Der Weg führt von ebenso armen wie bescheidenen Bergbauern im Karcal-Gebirge an der Grenze zu Georgien über den bedrohlich-verschlossenen und ungastlichen Scheich Seyed Abdul Bakir in dem Dorf Menzil bis zur Powerfrau Zeynep Gül Aktas, die an der Börse von Istanbul täglich Millionen bewegt. Dazwischen mischt Löwer sich unter die Scharen von Touristen, die bei Sonnenaufgang die gewaltigen Steinskulpturen auf dem 2150 Meter hohen Berg Nemrut Dagi bewundern, und er trifft in Derinkuyu auf den einsamen Forscher Metin Göksen, der ihm seine Theorien über die unterirdischen Höhlenstädte Kappadokiens erläutert.

Löwer spricht mit strengen Militärs und ebenso strengen Vätern, mit Baulöwen am Atatürk-Staudamm wie auch mit Gastarbeitern, die nach Jahrzehnten harter Arbeit als alte Mäner aus Deutschland in ihr sterbendes Heimatdorf Mentes zurück gekehrt sind, um dort ihren Lebensabend zu beschließen. Der Autor widmet ein Kapitel den Nöten der Istanbuler Hausfrau Perihan Pinar und beschreibt deren Alltag ebenso spannend wie in einem anderen Kapitel den traumhaften Aufstieg des Teppichhändlers Fettah Tamince zum Besitzer der Nobelhotelgruppe Rixos. Löwer ist ein exzellenter Schreiber und so schafft er es, auf jeweils einigen wenigen Seiten, den unbequemen, weil kurdischen Verleger Fatih Tas genau so eindrucksvoll zu porträtieren wie den Umweltschützer Hayrettin Karaca, den jedes Schulkind in der Türkei als „Herr der Eichen“ kennt und dessen Stiftung TEMA heute mit 264000 Mitgliedern die zweitgrößte zivile Vereinigung des Landes ist.

Hans-Joachim Löwer gelingt das Kunststück, mit leichter Feder auf gerade einmal 200 Seiten mehr Wissen und Verständnis über die Türkei zu vermitteln, als jeder noch so gute Reiseführer. Sein Buch „Atatürks Kinder“ ist das Beste, das ich seit langem gelesen habe und es hat mir große Lust gemacht auf weitere Reiseberichte dieses hervorragenden Journalisten.

Nachtrag: Wenn wir von hervorragenden Journalisten reden, darf Peter Scholl-Latour nicht fehlen. Der hat sich nämlich früher als andere mit dem heraufziehenden Konflikt zwischen dem Islam und der westlichen Welt befasst. Sein Reisebericht „Allahs Schatten über Atatürk: Die Türkei in der Zerreißprobe. Zwischen Kurdistan und Kosovo“ stammt zwar aus dem Jahr 1999 und ist damit nicht mehr ganz taufrisch. Angesichts des immensen Wissens und des gewaltigen Erfahrungsschatzes Scholl-Latours steht dieses Buch jedoch in meiner „Leseliste Türkei“ noch immer ganz weit oben.