Chicago: Alles eine Nummer größer

Eigentlich habe ich für meine Reiseberichte die Rubrik „Unterwegs“ eingerichtet, doch dieser Trip war zu sehr Business und zu wenig Sight-Seeing, als ich dass ich daraus kluge Ratschläge schneidern könnte. Sechs Tage war ich in der „Windy City“ mit ihren rund neun Millionen Einwohnern, aber gefühlte fünfeinhalb davon habe ich in den Hallen des gigantischen McCormick Place verbracht, um heraus zu finden, was über 30000 Hirnforscher im vergangenen Jahr so alles entdeckt haben (Die Berichte dazu erscheinen nach und nach auf meiner geschäftlichen Webseite unter dem Stichwort „Society for Neuroscience“).

Tatsächlich war ich vor schlappen 27 Jahren mit einigen Freunden schon einmal hier gewesen. Doch da wir uns damals in den Kopf gesetzt hatten, binnen zehn Wochen ALLE Sehenswürdigkeiten der USA zu besichtigen, und weil wir überdies in einen üblen Feierabendverkehr gerieten, blieben uns für die drittgrößte Stadt des Landes nur lächerliche sechs Stunden. Das war genug, um das John G. Shedd Aquarium zu besuchen, für das wir vier Dollar zahlten (heute $ 25) und an das ich Null Erinnerung habe, obwohl es damals das größte Aquarium der Welt war 🙁

Dumm gelaufen, nix gesehen: Der Sears Tower im Nebel (Foto via Wikipedia)
Dumm gelaufen, nix gesehen: Der Sears Tower im Nebel (Foto via Wikipedia)

Ein Steak mit Salat und Riesen-Ofenkartoffel kostete  $ 3,50 – auch das ist Vergangenheit. Die Hauptattraktion war indes der Sears Tower, mit 110 Stockwerken und 443 Metern seinerzeit das höchste Haus der Welt. Schade nur, dass wir oben in den Wolken steckten und statt grandioser Aussicht nur gefühlte Höhe blieb 🙁 Seit Juli heißt der Sears Tower übrigens Willis Tower, weil der Versicherungsmakler Willis Group Holdings mit Sitz in London für den Namen mehr Geld zu zahlen bereit war, als die Kaufhauskette Sears. Die nannte den Namenswechsel übrigens „traurig“ (Danke, Wikipedia – ohne Dich wäre ich sowas von blöd).

Fast alles was ich sonst noch über Chicago wusste, habe ich dem Kultfilm „Blues Brothers“ zu verdanken. Wer ihn gesehen hat, weiß Bescheid, die anderen sind selbst schuld, denn sie haben unter anderem reihenweise Gastauftritte berühmter Blues- und Soulstars verpasst sowie die wohl noch immer beste Autoverfolgungsjagd der Filmgeschichte. Die innerstädtische Hochbahn, unter deren Stahlträgern diese Verfolgungsjagd zum Teil statt findet, steht noch immer und bildet zusammen mit den Metra Commuter Trains und ungezählten Buslinien ein sehr gut ausgebautes Nahverkehrssystem. Wer will kann aber auch mit dem Mietwagen die Stadtautobahn entlang des Lake Michigan fahren, kilometerweit durch dreispurige Tunnelsysteme navigieren oder sich durch das Einbahnstraßensystem im Zentrum kämpfen, wo die Parkgebühren während der Hauptgeschäftszeiten schon mal 14 Dollar erreichen können – für eine halbe Stunde!

Sehenswürdigkeiten gibt es zuhauf und nicht gesehen habe ich das Adler-Planetarium, das Art Insitute of Chicago und das Field Museum of Natural History, um nur mal drei High-Lights zu nennen, die ich mir für den nächsten Besuch vorgenommen habe.

Wer auf Hochhäuser steht, riskiert hier einen schiefen Hals. An all den unterschiedlichen Gebäuden und Stilen konnte ich mich gar nicht satt sehen. Anscheinend gibt es hier keine strengen Bauverordnungen, die Architekten konnten sich so richtig austoben, die Bauherren wollten sich gegenseitig übertrumpfen und heraus kam ein ziemlich grandioser Mix aus Glasfassaden und Steintürmen in den verschiedensten Farben, mal mit und mal ohne Zinnen, Türmchen und anderem Zierat. Manch einem mögen die Fassaden bekommt vor kommen, und dies ist kein Zufall. Zwei Batman-Filme, nämlich Batman Begins und The Dark Night nutzten beide die Kulisse der Stadt.

Unter den Betonhaufen, den Stahltürmen und dem Asphalt gibt es — noch mehr Beton, Stahl und Asphalt. Zusammen mit gut 30000 Kongressteilnehmern konnte ich dies aus den Bussen heraus beobachten, für die man eine kilometerlange unterirdische Trasse zum McCormick Place gebaut hat. Dieses Veranstaltungszentrum bietet Platz für 100000 Menschen; man könnte aber auch ein paar Kirchen darin parken. Es gibt mehrere Autobahnanschlüsse, Zug- und Metrohaltestellen, Souvenirshops, überteuerte Pizza und einen integriertem McDonalds wo offensichtlich die Weltmeister im Schnellbraten und -verkaufen von Hamburgern arbeiten. Selbst zu den schlimmsten Stoßzeiten musste keiner länger warten als eine Viertel Stunde.

Zimperliche Vegetarier werden in Chicago weniger Spass haben als die Freunde saftiger Steaks, lauter Sportbars und voller Bierhumpen. Mein Tipp: Think globally, drink locally. In Chicago bedeutet das, auf Heineken & Co. zu verzichten und statt dessen die verschiedenen Sorten der Goose Island-Brauerei zu probieren. Am besten schmeckt das Bier natürlich mit Live Blues-Musik, auch wenn womöglich ein Großteil der Kneipen ihre Existenz den Touris oder Kongressbesuchern wie mir verdanken. Spass gemacht hat´s trotzdem. Und wo, bitte, findet man noch eine „Charly Love Blues Band“ und eine Nellie „Tiger“ Travis, deren Ausstrahlung und röhrender Gesang einem Nackenschauer auf den Buckel zaubern? Schade, dass die Nacht im Blue Chicago so kurz und die Arbeitstage so lang waren. Ich hoffe auf ein Wiedersehen und dann – das habe ich mir fest vorgenommen – werde ich mehr Zeit für Chicago mitbringen.

Neuroscience-Fieber erneut ausgebrochen

Es hat mich ´mal wieder gepackt. Wie die Schwalben in den Süden so zieht es mich jedes Jahr um diese Zeit in die USA. Allerdings geht es nicht zum Einkaufen nach New York, nicht zum Zocken nach Las Vegas und auch die zahllosen Naturschönheiten und sonstigen Touristenattraktionen dieses großartigen Landes bleiben links liegen. „Sorry“, sage ich meinen alten Freunden aus der Studienzeit, denn auch für Euch bleibt keine Zeit. Alles andere wird plötzlich zur Nebensache, ich muss zu dieser einen Konferenz, die ich brauche wie ein Junkie seine Nadel:

Die Jahrestagung der Society for Neuroscience ist das weltweit größte Treffen von Hirnforschern.  Fünfeinhalb Tage, 30000 Forscher, 14000 wissenschaftliche Präsentationen – so lauten die nüchternen Zahlen. Schon klar, dass die Frankfurter Buchmesse, die Internationale Automobil-Ausstellung und die Cebit mehr Besucher haben, und ich will den Bücherwürmern, Auto- und Computerfans ihre Leidenschaften nicht madig machen. Doch auf der Neuroscience-Tagung geht es um Höheres. Zum Beispiel darum, warum wir so sind, wie wir sind. Nicht eine, sondern Tausende Antworten findet man hier auf die Frage, warum wir tun, was wir tun. So ziemlich alles, was Sie in ihrem Leben über das Gehirn gehört, gelesen und gelernt haben, wurde bereits auf dieser Veranstaltung präsentiert und diskutiert. Auch das, was Sie in der nächsten Woche oder in einem halben Jahr in der Zeitung über Ihr Denkorgan erfahren werden, könnten sie bereits in den nächsten Tagen in Chicago hören. Besser, Sie versuchen es erst gar nicht.

Eine Woche lang habe ich mich durch das Programm gekämpft. 173 Seiten lang sind meine Notizen. Alzheimer, Parkinson, Schlaganfall, Depressionen, Schizophrenie, Epilepsie, Multiple Sklerose, Hirntumoren, Lähmungen, Sprachstörungen, geistige Behinderungen, Essstörungen & Übergewicht, Sex & Sucht. Aber auch: neue Arzneien, neue Therapien, neue Techniken, Stammzellen & Neuroprothesen. Es geht um riskantes Verhalten, um  Fairness & Moral, um Hirndoping , Altern & Hormone, um Meditation, Yoga, Tanz und Tai-Chi, um Sport & Intelligenz, um Experimente mit Würmern, Fliegen, Heuschrecken, Zebrafischen, Mäusen, Ratten, Katzen, Hunden, Affen – und natürlich Menschen.

Wie jedes Jahr werde ich täglich an die zehn Kilometer durch die Hallen des Konferenzzentrums laufen, werde hin und her pendeln zwischen Vortragssälen für 100 Leute und solchen, die 8000 Menschen fassen. 268 Zeitkonflikte meldet der Online Meeting Planer und es gibt nicht die geringste Chance, hier all das mitzunehmen, was mich interessiert. Vielleicht haben ja die beiden Zauberer Apollo Robbins und Eric Mead einen Tipp für mich, die den Event im Rahmen der Science & Society-Serie eröffnen werden? Man müsste sich klonen, um all die spannenden Vorträge zu hören, die jeweils gleichzeitig an entgegen gesetzten Enden des McCormick Place statt finden. Der brüstet sich, das größte Konferenzzentrum der USA sein. Na toll.

Schon sehe ich mich wieder verzweifelt die Poster entlang rennen – jene zusammen gefassten wissenschaftlichen Arbeiten, die mit Bild und Text auf eine Tafel gepinnt werden. Ab Samstag, 13:00 werden etwa 1200 davon auf mich warten. Fein säuberlich in Reihen gestellt werden sie in der South Hall A stehen, die etwa so groß ist wie ein Fußballfeld. Zwischen den Vorträgen muss ich möglichst viel davon aufsaugen und mit den Wissenschaftlern davor reden, damit ich auch alles richtig verstehe. Nach vier Stunden werden die Poster abgehängt, um Platz zu machen für die nächsten 1200 am Sonntag Morgen um 8:00. Zeit bis 12:00, und ab 13:00 wieder 1200 neue Poster. So geht das bis zum Mittwoch Abend.

Keine Chance. Mir wird schwindelig bei dem Gedanken, was ich wieder alles verpassen muss. Peter Fox fällt mir ein: „Durch den Schädel immer im Kreis, alle Drähte laufen heiß, es riecht nach hirnverbranntem Fleisch, ich stecke meinen Kopf ins Eis. Ich denk, denk, denk, denk, denk zuviel. Es wär gut, wenn mein Hirn aus dem Fenster fiel. Druck im Kopf, es gibt kein Ventil. 20.000 Szenen durchgespielt 100.000 Szenen ausgedacht, mein Höllenschädel raucht und knackt…“

Voll auf Droge und seit 1994 bei jeder Neuroscience-Tagung dabei: Der Michel

Abends dann ab zu den „Socials“. Dort treffen sich die Hirnis erneut auf einen Cocktail oder ein Bier – und reden natürlich wieder über ihre Arbeit. Es gibt Socials über exzitatorische Aminosäuren und den Zelltod, man spricht über Neuroinformatik und wie man Hirne an Computer koppeln kann, über Singvögel oder den Gleichgewichtssinn. Es finden sich zusammen die segelfliegenden Neurowissenschaftler und die schwulen und die lesbischen Neurowissenschaftler. Die haben ebenso ihren Treff wie die „afro-amerikanischen“, die armenischen, iranischen oder chinesischen Spezialisten. Es gibt auch wieder eine Jam-Session mit musizierenden Neurowissenschaftlern und ganze Labors, die gemeinsam singen werden. Wer glaubt, dem Ganzen entfliehen zu können und sich aufmacht in die angesagten Blues-Bars der Stadt, der wird auch dort mit ziemlicher Sicherheit auf Kollegen treffen, mit denen er die letzten Neuigkeiten vom Kongress diskutieren kann.

Mag sein, dass Sie nun den Kopf schütteln, meine Sucht nach Neurowissenschaft als behandlungsbedürftig einstufen und einen Arzt rufen wollen. Dann danke ich für Ihre Besorgnis und lehne lächelnd ab. Es ist zu spät – zu spät wohl auch für diese Warnung:  Achtung, das Neuroscience-Fieber ist hochgradig ansteckend!

Wenn es Sie auch erwischt hat, schauen Sie ´mal vorbei auf meiner geschäftlichen Webseite Hirnstimulator.de. Dort können Sie nachlesen, was ich auf der diesjährigen und ettlichen anderen Neuroscience-Tagungen ausgegraben habe.